„Wir Kinder“ – ein nachdenklicher Abend mit Texten und Musik am Gymnasium Rahlstedt
Ein Bericht von Volker Wolter, ehemaliger Schulleiter am GyRa
Verantwortungsvolle Erinnerungskultur ist kein bequemer Spazierweg, sondern ist sperrig und steinig. Das gilt in besonderem Maße für die Erinnerung an den beispiellosen Kulturbruch, der sich in Deutschland unter Führung einer Partei und „Bewegung“ und unter Teilnahme oder wegschauender Duldung großer Teile der Bevölkerung zwischen 1933 und 1945 vollzog. Die Ereignisgeschichte dieser furchtbaren 12 Jahre wie auch die Geistesgeschichte dieser Zeit hatte ihre Voraussetzungen wie auch ihre Folgen für unsere Nation und für Europa; wir spüren das gerade heute. Neben Diskriminierung, Kultur- und Sprachlenkung bis hin zur Totalzerstörung ganzer Städte und Landschaften ist es vor allem der Holocaust, der auch 78 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die russische Armee (27.1.1945), nach den Nürnberger und den Auschwitz-Prozessen mit ihrer dürftigen juristischen Aufarbeitung, und angesichts der immer noch anhaltenden Aufarbeitung durch Historiker, in seiner Monstrosität des Leids auf der einen und in seiner Teilnahmslosigkeit beziehungsweise Verdrängung auf der anderen Seite schier unbegreiflich ist. Er muss aber doch immer wieder von uns begriffen werden. „Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind verurteilt, es noch einmal zu erleben.“ Dieser Satz Jorge Sempruns, der zu den Überlebenden des SS-Staats gehörte, steht als großes Menetekel an all den Wänden, an denen manche lieber den Nationalstolz auf die Dichter und Denker, die Erfinder, die „Macher“ oder auch die Moralapostel für die ganze Welt verewigen würden.
Der literarisch-musikalische Abend „Wir Kinder“, gestaltet vom Chor und dem Musikkurs des 4.Semesters und geleitet von Clemens Bergmann, Musik- und Religionslehrer am Gymnasium Rahlstedt, wenige Tage nach dem Holocaust Gedenktag, zeugte von einer Erinnerungskultur, die sich nicht mit oft gehörten, gut gemeinten Stereotypen des „Nie wieder“ zufrieden gab, sondern den Versuch machte, die Darstellung einiger historischer Fakten zu verknüpfen mit der radikal subjektiven Sicht von betroffenen Kindern und Jugendlichen, denen das verbrecherische System und seine Helfershelfer den unbeschwertesten Teil eines Lebens raubte: die frühen Jahre.
In den überwiegend zeitgenössischen Texten aus dieser schlimmsten Phase deutscher Geschichte, die durchweg von betroffenen Kindern und Jugendlichen stammten, werden die Dimensionen des Leids und der Zerstörung ganzer Seelenlandschaften nicht analytisch, sondern radikal subjektiv und kindlich pointiert vor den Zuhörern entfaltet. Die Schülerinnen und Schüler trugen Texte vor, die in ihrer Schlichtheit, in ihrer Kindlichkeit auch im Angesicht überwältigender Situationen, fühlbar und nacherlebbar machten, wie eine gnadenlose, skrupellose „neue Ordnung“ in jeden Lebensbereich der Menschen eingriff und einen nie zu heilenden Schaden anrichtete.
Wenn zum Beispiel Kirsten einen Text der damals siebenjährigen Inge Auerbacher über einen scheinbar ganz „normalen Schabbat“ mit seinen selbstverständlichen Ritualen im Familienkreis, mit seiner harmonischen Stimmung im Kleinen, vorträgt und ganz zum Schluss dann doch klar wird, dass es sich um ein Erleben nach der so genannten „Reichskristallnacht“ 1938 handelt, zeigt sich, wie groß der Abstand war zwischen den mühsam aufrecht erhaltenen Rudimenten einer individuellen jüdischen Alltagskultur und der „neuen Ordnung“, die alles auf Gleichschaltung ausrichtete und jeden Funken von Individualität und Selbstbestimmung auslöschte. Auch mit ihrem Gedicht „Ich bin ein Stern“, vorgetragen von Celina, nimmt Auerbacher die Perspektive eines kleinen Kindes ein, das den angenähten gelben „Judenstern“ an seiner Kleidung tragen muss, diesen nicht, wie vom Regime gedacht, als Ausdruck der Stigmatisierung und Ausgrenzung wahrnimmt, sondern als Auszeichnung: „Kein Zeichen der Schande ist er, mein Stern / Ich trag ihn mit Stolz, ich trag ihn gern.“ Nikita trug ein lautmalendes Gedicht des Zwölfjährigen Janka Herscheles vor und machte im Rhythmus und der Betonung der Wörter das Rattern der Viehwaggons auf den holpernden Schienen in Richtung Osten hör- und spürbar. Auf ihnen wurden die Menschen ihrer Vernichtung im Konzentrationslager Belsec zugeführt.
Elie Wiesel, der spätere Nobelpreisträger, Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, schrieb als Sechzehnjähriger einen Text, in dem er mit seinem Gott angesichts des unfassbaren Leids der Verfolgten ins Gericht geht: „Heute betete ich nicht mehr. (…) ich war der Ankläger.“ Am Schluss des Textes, vorgetragen von Henry, wird deutlich, wo Wiesel steht, während ihn diese furchtbaren Gedanken umtreiben: auf dem Appellplatz des KZ Auschwitz. „Es war Schlafenszeit, und die Gefangenen trotteten langsam in ihre Blocks zurück. Ich hörte, wie man einander ein gutes neues Jahr wünschte.“
Phillip, Jennifer, Jonathan, Jonas, Anna, auch alle Choristen müssten hier eigentlich gewürdigt werden für die Ernsthaftigkeit ihres Vortrags, ihre Emotionalität wie auch für die, scheinbare, Lakonie des Tons, die die nicht fassbare Irrealität und Wahrheit hörbar machte.
Der häufig (und oft in falschem Zusammenhang) zitierte Satz Theodor W. Adornos (1949), dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei, hat jedenfalls übersehen, dass in Auschwitz Gedichte geschrieben wurden und sich in ihnen die Hölle nicht nur in spezifischer Weise darstellte, sondern dass diese Gedichte auch den Nachgeborenen eine Perspektive eröffneten, die so nah und authentisch ist wie kaum eine andere.
Der Chor und die Einzelinterpreten haben uns spürbar gemacht, wie sich in Texten in Verbindung mit Musik Dimensionen des Menschlichen offenbaren, die sich in einer nur-rationalen Darstellung, wie ich sie in meinen beiden Textbeiträgen dieses Abends präsentierte, nicht annähernd transportieren lassen. Emotion und Rationalität sind auch bei dem Umgang mit dem Holocaust nur die beiden Seiten derselben Medaille.
Der Chor, das Orchester und die Solisten dieses berührenden Abends haben vermittelt, was wohl alle im Atrium des Gymnasium Rahlstedt spürten: Hier wurde nicht Schulisches „abgeliefert“, sondern alles hat auch mit den Vortragenden selbst zu tun: Henry (Geige) , Jennifer, Laura, Solvejg, Ayda.
Die Lieder von Mordechaj Gebirtig (ermordet 1942 im Krakauer Ghetto) haben eine besondere Kraft, die sich auch im Vortrag des Chors und des S 4-Kurses vermittelte: „Undser shetele brent“ („Unser Städtele brennt“), Von Leonie mit unglaublicher Authentizität, Kraft und Virtuosität vorgetragen, führte vor Augen, wie ein Stadtbrand Schrecken, Starre, dann Hilfsappelle und Hoffnung auf Solidarität im Angesicht der Bedrohung auslöst. Wer aber kann da nur an einen Stadtbrand denken? Wem stehen nicht auch die kaum erträglichen Bilder von brennenden Scheunen vor Augen, in die SD-Einsatzgruppen kurz vorher Männer, Frauen und Kinder hineingetrieben hatten?
In diesem Kontext bekam ein anderes, auch in Deutschland jahrzehntelang populäres Lied eine ganz neue Anmutung. Es stammt aus dem 1932 in den USA geschriebenen jiddischen Musical mit dem erfahrungsgesättigten und zugleich ahnungsvollen Titel „Men ken leben norm en lost nisht“ („Man könnte leben, aber sie lassen uns nicht“): „Bei mir bistu shein“ („Bei mir bist du schön“), stimmgewaltig vorgetragen von Luise.
Der Abend wurde beschlossen durch Clemens Bergemann und seine Bearbeitung des Liedes „Ose shalom“ mit dessen Botschaft, dass derjenige, der den Frieden in seinen Höhen schafft, auch für uns den Frieden schaffen möge.
Der letzte Ton war verklungen – und es geschah nichts: hörbare Stille, Betroffenheit, Nachdenken. Dann großer und anhaltender Beifall voller Anerkennung. Akteure wie Zuhörer konnten froh sein, an diesem Abend dabei gewesen zu sein. Ein großer Dank an Clemens Bergemann von seinem alten Schulleiter.
Volker Wolter